Gelesen: Machiavelli für meinen Sohn, von Jean–Baptiste Hennequin
Niccolò Machiavelli schien kein Mensch der Zweifel gewesen zu sein.
In seinen Büchern kommt er klar und offen zur Sache, wie man denn mit den lieben Mitmenschen umzugehen hat, wenn man seine Vorstellungen von der Welt wirksam umgesetzt haben will.
Für Humanismus gibt es andere Philosophen.
Der moderne westlich–liberale Erziehungsberechtigte tut sich mit diesem Ansatz etwas schwer.
Er ist hin– und hergerissen zwischen dem ehrlichen Wunsch, dem Nachwuchs das Rüstzeug für ein erfolgreiches Leben mitzugeben, und dem Wunsch, altruistische Bürger einer liberalen Gesellschaft herzustellen.
Leider antagonistische Ziele.
Hennequin schreibt ehrlich über diesen Konflikt, er versucht seinen — zum Zeitpunkt der Ansprache — wohl halbwüchsigen Sohn auf einen rechten Weg zu bringen,
ohne ihn in die Gefahr laufen zu lassen, Opfer von anderen zu werden.
Denn diese Lektion Machiavelli hat er verstanden: Auch im Kleinen — man regiert, oder man wird regiert.
„Denk an dich“,
„Lass andere für dich arbeiten“,
„Verführe“,
„Lüge“,
„Bereichere dich“,
„Sei nicht du selbst“ —
diese Kapitel weisen diesen Weg.
„Wachse über dich selbst hinaus“,
„Lerne von der Geschichte“,
„Schütze deinen Glauben“,
„Nimm dich vor Barbarei in Acht“ —
diese Kapitel gehören andererseits zur humanistischen Selbstverbesserung,
die in diesem Buch doch auch vorkommt.
Wirklich Hintergründiges kommt in dem Buch leider wenig vor.
Die modernen Plutokraten zwingen anderen ihren Willen auf und betreiben ihre eigene Politik, indem sie mehr Einfluss auf das tägliche Leben nehmen als jeder Staat. (S. 70)
Als wäre die Verwobenheit von „Plutokratie“ und Staat nicht auch schon vor ein paar Jahren mehr als offensichtlich gewesen. Dass Macht und Staat immer zur Staatsmacht verschmelzen, das könnte man schon lernen von Machiavelli.
Die meisten Kinder würden ohne zu zögern dem erstbesten Obdachlosen ihr Essen geben, denn ihr Gemüt ist noch nicht befallen vom Laster moralischer Heuchelei. (S. 72)
Ihr Gemüt ist aber auch noch nicht befallen von der Verantwortung für sich selbst oder gar für andere zu Sorgen. Dass „Il Principe“ viel davon trägt, auch das wissen wir.
Die Macht, die ich dir wünsche: Avoid Boring People lautet der Titel eines Buches, in dem der Nobelpreisträger James D. Watson unter anderem dazu rät, sich lieber in die Zeitung zu vertiefen, statt Smalltalk mit dem Kollegen am Tisch zu führen, der nichts Interessantes zu erzählen hat. Diese Aufforderung zur Unhöflichkeit widerspricht dem, was ich versucht habe, dir über den Umgang mit Menschen beizubringen. Aber ehrlich gesagt verhalte ich mich genauso, denn angesichts der Kürze des Lebens finde ich Langeweile verwerflich.
Klingt etwas unmachiavellisch-brutal, aber umso menschlicher; ich vollziehe das nach.
Jean-Baptiste Henequin, Machiavelli für meinen Sohn
Eine kleine Philosophie der Macht
BELTZ, ISBN 978-3-407-86425-3
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