Die Guten Statuten

Aus aktuellem Anlass.

Dass eine funktionierende Organisation (Gesellschaft) Regeln braucht ist einleuchtend.

Wie viele Regeln braucht es? So viele, dass sich möglichst niemand benachteiligt fühlt und ein gerechtes System entsteht.

Wie viel Aufwand muss die Organisation aufwenden, um das Einhalten der Regeln zu überwachen? So wenig wie möglich, so viel dass sich die Mitglieder der Organisation trotzdem an die Regeln gebunden fühlen.

Gut, das war jetzt wenig hilfreich. Trotzdem sind diese beiden Fragen welche, die in unserer Gesellschaft wenig gestellt werden. Zu hoch ist die Sehnsucht nach absoluter Gerechtigkeit, zu kompromisslos fühlt sich unsere westliche Gesellschaft den eigenen Regeln verpflichtet. Hier fühle ich mich wieder einmal von Leopold Kohr inspiriert und vermute folgendes: Je größer die Gemeinschaft ist, in die man sich eingebunden fühlt, desto größer das ausschließliche Vertrauen in schriftlich verfasste Gesetze. In meinem Fall fühle ich persönlich die Stadt Wien als kleinste relevante Einheit. Mehrparteienhaus, Dorf, Bezirk mögen exisiteren und auch gewisse Entscheidungsbefugnisse besitzen, aber spürbar ist das für mich kaum. Die Stadt Wien dagegen hat ein beachtliches Budget, ein beachtliches Regelwerk, eine beachtliche Medienlandschaft. Der Staat Österreich ist die politische Entität, zur der ich mich wahrscheinlich am stärksten gebunden fühle. Immerhin zahle ich ja auch die meisten Steuern an den Staat, und er beschließt die meisten für mich relevanten Gesetze. Für die EU gilt zumindest letzteres auch immer mehr, die EU ist nur für mein Gefühl nur noch nicht ganz an dieser Stelle, was sicher auch am Missbrauch der EU als Sündenbock für nationales politisches Kleingeld liegt. Andere Geschichte.

Jedenfalls sind diese Organisationsgrößen schon nicht mehr überblickbar. Ich kenne an der Gesamtzahl kaum Wiener, noch weniger Österreicher und schon gar nicht EU Bürger. Somit muss ich mich auf Gesetze verlassen, und dass die Einhaltung von der Obrigkeit überwacht wird. Meine Theorie: Da kleinteilige Strukturen (z.B. Nachbarschaften) immer schwächer werden, wird der Gesetzesdschungel immer dichter. Regelwerke werden verfeinert um Moral und Ethik ersetzen zu können, was aber scheitert.

Zwei Beispiele um zu illustrieren, warum ich mit der Entwicklung von Gesetzen ganz allgemein unzufrieden bin:

  1. Heute war ich Teilnehmer an der Bundesversammlung der Partnerinnen und Partner des Liberalen Forums. Die ersten drei Stunden waren lediglich mühsames (und peinliches) Gezänk über das Verhalten des Bundespräsidiums und anderer LIF Mitglieder. Es wurde niemanden ein Fehlverhalten mit Auswirkung auf das "echte Leben" vorgehalten, sondern "nur" Verletzungen gegen die Statuten. Einige Teilnehmer der Veranstaltung waren aber durchaus der Meinung, dass auch solche Verfehlungen (ein Verbrechen ohne Opfer?) eine Abberufung des Präsidiums rechtfertigen.
    Der Text der LIF Statuten und Geschäftsordnung sollte somit dessen Geist gleichberechtigt sein.
  2. Ich lese viel Internet Foren (z.B. derstandard.at). In letzter Zeit gab es einige hitzige Forumsdiskussionen zu Sanktionen der StVO für verschiedene Klassen von Verkehrsteilnehmern. Ein großer Teil der Diskutanten vertritt die Ansicht, dass zum Beispiel das Nichtbeachten einer roten Ampel für alle Verkehrsteilnehmer gleich sanktioniert werden sollte.

Ich halte beides nicht verhältnismäßig. Den Sinn hinter Regeln nicht zu kennen und vermuten zu müssen, dass es gar keinen gibt ist für mich Unfreiheit und soziale Willkür. Ich will dass sich niemand betrügerisch bereichert, aber ein Jugendlicher mit voller Festplatte voll kopierter Filme soll viel milder bestraft werden als ein Regierungsmitglied, das sich selbst Vorteile bei der Privatisierung von Staatseigentum (Wohnungen, nur so als Beispiel) verschafft.
Ein Fußgänger der bei Rot die Kreuzung überquert sollte viel milder bestraft werden wie ein Autolenker, der das gleiche tut.
Ein Parteivorsitzender der sich großzügig aus der Parteikasse bedient sollte aus dem Vorsitz gejagt werden, im Gegensatz zu einem, der interne Prozesse nicht eingehalten hat.

Auch iuristisch sollte jede Wirkung ihre Ursache haben.

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