Wie vor Ulysses oder dem Zauberberg gibt es auch warnende Stimmen vor dem "Mann ohne Eigenschaften". Es sei schwer verdaulich und mühselig durchzuarbeiten. Obwohl ich mich vor Arbeit drücke wo es nur geht (Arbeit als Begriff zur Umschreibung von Tätigkeiten die ich nicht mag), habe ich oft genug diese guten Ratschläge durchs Fenster in den Wind ziehen lassen. Zum Glück auch hier. Ja, lang und schwierig sind die Sätze tatsächlich des öfteren. Und jetzt bin ich durch; gut is' gangen, nix is g'scheng.
Nach den ersten dreißig Seiten habe ich das Buch zum ersten mal fröhlich aus der Hand gelegt; das lag nicht nur an der damaligen Urlaubsstimmung. Also wirklich, auf jeder Seite wird man mit Witz belohnt, mit einem gut verpackten, extrem intelligenten Satz, über den man philosophieren kann und der klug ist. (Ich habe jetzt lange überlegt, ob ich dieses Adjektiv verwende, ich mag es nämlich nicht, aber kein anderes passt so gut.
Natürlich ist es wie immer Geschmacksfrage, ob einem der Stil eines Autors liegt oder nicht, aber der staubtrockene Humor von Musil ist eins, nämlich meins.
Eigentlich habe ich mir vorgenommen, zu diesem sehr langen Buch kontrastierend einen sehr kurzen Text zu schreiben. Es gelingt mir nicht. Ich mag einfach zu viele Beispiele zitieren, um mein Gefallen des Romans zu dokumentieren.
Zum Verhältnis der Geschlechter: Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, wird nach einem Überfall von einer unbekannten jungen Dame aufgelesen, schildert wortreich das Vorgefallene und sinniert über das theologische im Sport. Den Eindruck der Dame schildert Musil so: "Und wie dem auch sei, sie fand, dass ein glücklicher Zufall sie einen sehr geistvollen Mann hatte retten lassen, und zwischendurch frage sie sich allerdings auch, ob er nicht etwa eine Gehirnerschütterung erlitten habe." (S.29) Wundervoll.
Der Abschnitt über das kakanische Staatswesen (S.33f) lässt sich in so wunderbarer Weise in unser aktuelles Österreich herüberretten, dass es eine Freude ist. Zwei Beispiele, beginnend mit der Einstellung der Bürokratie zu unberechtigten Privatpersonen: "Und in Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam, schon der Lümmel für ein Genie." Nun gut, manch dahingegangener Finanzminister unserer Republik mag den zweiten Teil als falsifiziert hinstellen, trotzdem finde ich den Satz wunderschön deklarativ und vertraut.
Der Parlamentarismus in Kakanien: "Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, dass man es gewöhnlich geschlossen hielt;" Die Kakanier hatten die Habsburger, was diesen politischen Mechanismus ermöglichte. Als diese abgeschafft worden waren, und ein paar Jahrzehnte später das tausendjährige Reich und doch auch viel der braunen Brut, da muss diesem Österreich das Parlament im Sinne des obrigen Spruches etwas lästig geworden sein. Da besann sich der Staat auf den Doppeladler; Österreich-Ungarn war es nun natürlich nicht mehr - die Ungarn hatten sich unfairerweise in eine Art Sozialismus abgesetzt, machten im Sinne jedoch ähnliches - also wurde es Rot-Schwarz. Wundervoll, wie ein altes Buch einem viel in der Gegenwart erklären kann.
"Alt" stellt einen relativen Zusammenhang her. 100 Jahre sind angemessen an die Menschheitsgeschichte nicht so sehr viel, aber ein Mensch wie ich stellt sich dann doch vor, dass vor 100 alles ganz anders, ganz altmodisch war. Gemessen am technischen Fortschritt stimmt das auch, aber im Denken wohl doch nicht so sehr.
Zwei Zitate: "In einem seiner Bücher stand, dass ein Mann, der seinen Anzug im Spiegel überwache, zu einer ungebrochenen Handlungsweise nicht fähig sei. Denn der Spiegel, ursprünglich zur Freude geschaffen, so führte er aus, sei zu einem Instrument der Angst geworden, wie die Uhr, die ein Ersatz dafür ist, dass unsere Tätigkeiten sich nicht mehr natürlich ablösen." (S. 177). Musil zitiert in seinem Buch ein anderes - ich nehme an, fiktives, Buch. Die beiden banalen und sehr scharfsinnigen Aussagen passten also schon in das beginnende 20. Jahrhundert; dass das Zeitalter des Diktats der Zeit in der Massengesellschaft angebrochen ist, und die Angst, deshalb schon in den oberflächlichen Blicken der Gesellschaft zu versagen.
Zweitens: Wurde und wird die Gesellschaft immer 'besser' (im Sinne von 'Gutes Tun')? ".. denn ohne Philosophie wagen heute nur noch Verbrecher anderen Menschen zu schaden, .." Ich lese hier etwas Geringschätzung der Philosophie heraus, denn in diesem Kontext wird sie lediglich in einem Euphemismus benutzt, als Tarnung der eigenen Raffgier zum Schaden anderer. Der Aussage selbst stimme ich aber zu. Zu Musils Zeit sehr scharfsinnig wenn man bedenkt, dass das Buch noch vor dem ersten Weltkrieg spielt; geschrieben wurde es allerdings erst in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Dieser Krieg war vielleicht der letzte große Krieg in dem so Begriffe wie "Ritterlichkeit" und "Männlichkeit" als Rechtfertigung von kriegerischer Auseinandersetzung herhalten mussten. 1918 war dann ersichtlich, dass Krieg keine Tugend ist, zumindest jedem der es sehen wollte. Im zweiten Weltkrieg war noch ein großes Aufbäumen einer Großmacht, die meinte, ihren Lebensraum ganz offiziell auf Kosten anderer einsacken zu können. Dieses Böse wurde glücklicherweise zurechtgestutzt; heute wissen wir, dass Angriffskriege von Großmächten eigentlich nur noch zum Wohle des angegriffenen Volkes geführt werden. Teilweise ähnliches spielt sich auch in der großen Wirtschaft der Multis ab, natürlich nicht so einfach durchschaubar. Auch darauf spielt der Mann ohne Eigenschaften einige male an, wenn es hier auch noch nicht der 'wirtschaftlich-militärische Komplex' heißt.
Auch Clarisse, eine Freundin des Protagonisten Ulrich, sagt interessantes: "[..] die ganz große Gemeinheit entsteht heutzutage nicht dadurch, dass man sie tut, sondern dadurch, dass man sie gewähren lässt. Sie wächst ins Leere." (Seite 356) Sie führt an dieser Stelle nicht genauer aus, was sie damit meint, aber auch diese Aussage passt in unsere Zeit: Wir sind nur mehr an politische Sachzwänge gebunden, unsere Handlungen sind alternativlos, wenns wir nicht tun, tuts ein anderer. Massentierhaltung, Ausbeutung chinesischer Arbeiter, Bestechung afrikanischer Politiker um billig an Rohstoffe zu kommen — für all diese Gemeinheiten haben wir Gemeinheitsspezialisten; das gemeine Volk wird nicht so sehr belastet, es muss nichts tun, es muss lediglich gewähren lassen. Für die ausgelagerten Missetäter gilt, dass sie ja auch leben müssen; und tun sie es nicht – wie gesagt, es finden sich sicherlich andere.
Man hört heute oft von einer Krise des Sozialismus, oder - genauer - einer Krise der sozialdemokratischen Parteien Europas. In Österreich ist die SPÖ unambitioniert was ihre früheren Kernanliegen betrifft, die Genossen der SPD in Deutschland hadern mit ihrem Spitzenkandidaten Steinbrück, der gerne von den Reichen nimmt, aber nicht so sehr gern an die Armen verteilt.
Auch in den jungen Jahren des politischen Diskurses scheint es das Hadern mit den Sozialisten schon gegeben zu haben: "[Die Sozialisten] diskutieren darüber, daß in der Zukunft der Besitz aufhöre, wenn sie nicht mehr da sind, und werden in der Meinung, daß sie einen sozialen Charakter besäßen, noch dadurch bestärkt, daß nicht selten charaktervolle Sozialisten, in überzeugter Erwartung des ohnehin unausbleiblichen Umsturzes, bis dahin lieber bei reichen Leuten verkehren als bei armen". (S. 421) Schön ist das, das Dilemma Mensch.
Der zweite Teil geht noch mehr in eine nachdenkliche Tiefe. Während im ersten Buch noch jede Menge Handlung durch die sogenannte "Parallelaktion" stattfindet, besteht das zweite Buch zum überwiegenden Teilen aus tiefsinnigen Gesprächen zwischen Urlich und seiner Schwester Agathe. Es setzt sich fort, die Erkenntnis, dass vor 100 Jahren eh auch alles ähnlich war wie jetzt, denn auch ohne reality soaps im Privatfernsehen erkennt der Hauptdarsteller: "Diese heutige Vorliebe für das moralisch Gruselige ist natürlich eine Schwäche. Wahrscheinlich bürgerliche Übersättigung am Guten;" ja, wahrscheinlich auch jetzt. Oder umgekehrt — die political correctness der heutigen Zeit ist eine Reaktion auf das moralisch Gruselige der Bevölkerungsmasse, die sich im realen Leben nicht darum schert.
Warum gefällt mir das Buch? "‘Ich spotte nur, weil ich es liebe’ entgegnete Ulrich kurz" (s. 752)
Es hat mir gezeigt, dass unsere Zeit, oder gleich unsere Welt, nicht so besonders ist wie wir sie uns oft einbilden. Wir Menschen sind die gleichen geblieben, im Guten wie im Bösen. Nur die Moral biegen wir uns hin und wieder zurecht.