Gelesen: Die reuelose Gesellschaft, von Rotraud A. Perner
Perner's Lament. Eine Formulierung in Deutsch die ähnlich gut passt fällt mir zu diesem Buch nicht ein. Es steht nichts Falsches in diesem Buch, aber bereits der Einstieg ist ein buntes Sammelsurium an Allgemeinplätzen was falsch läuft in unserer Welt. Dass die Wahrheit oft auf der Strecke bleibt. Dass alles viel zu schnell geht. Dass Eigenverantwortung und Zivilcourage selten geworden sind. Dass wir am Informationstropf professioneller Verführer hängen. Etc. etc. etc. Wie gesagt, alles richtig, aber auch alles schon gewusst.
Dazu kommt eine misandrische Grundstimmung, die sich durch das gesamte Werk zieht: Auf der vierten Seite berichtet die Autorin von einem Mann, der eine – die der Autorin? – Psychotherapie ablehnte, weil er womöglich dadurch die Erkenntnis gewinnen würde, gar nicht verheiratet sein zu wollen. Perners Analyse bezeichnet den Mann danach als "Giftklumpen", als "Kaktusmenschen" dem man meiden solle. Kurz später wird es etwas expliziter:
Verantwortlichkeit bedeutet in diesem Fall, dass man sich der Suggestivkraft von Worten und Sätzen [..] bewusst ist. Das ist aber nicht einmal bei den – Selbstbezeichnung – Qualitätsmedien immer der Fall; dies hängt einerseits mit den persönlichen Ressentiments der Gestalter zusammen – aus meiner Beobachtung kommt dies vor allem bei Männern vor [..], Frauen sind überwiegend sensibler für Diskriminierungen, und seien sie noch so geschickt getarnt –, [..]
Frauen enttarnen also Diskriminierungen, und seien sie noch so geschickt getarnt, wahrscheinlich haben sie ein Diskriminierungsenttarnungsgen. Das obige Zitat darf man dann als Klartextsexismus bezeichnen. Und wie so oft ist es schade um den Versuch, Genderthemen objektiv anzugehen. Natürlich ist es gut, in einem Buch das sich mit der Gesellschaft auseinandersetzt, auch diesen Aspekt zu untersuchen, aber muss es sich einseitig durch den gesamten Text ziehen? Oft versucht Perner ja tatsächlich, einen wissenschaftlich ausgeglichenen Ansatz, aber spätestens bei den Beispielen aus dem ausgiebigen Anektdotenschatz der Autorin ist dann wieder klar, dass es ein Täter-Opfer-Schema gibt – geben muss – das nur eine Schablone kennt. Und nach dem Beispiel kommt dann der unvermeidliche Schluss, wie dieser:
[..] wir so auch unser Sexualverhalten kultivieren könnten … wenn wir wollen. Doch die meisten westlichen Männer wollen das gar nicht, [..]
Die meisten westlichen Männer. Das Attribut "weiß" fehlt noch. Hier darf ich auch einmal zitieren, nämlich aus einem Programm von Volker Pispers:
Es geht nicht über ein einfaches Weltbild — das kennen Sie noch aus den Zeiten des Feminismus; wenn man weiß, wer der Böse ist, hat der Tag Struktur. 1
Das Weltbild der Autorin ist ein egozentrisches. Nach einem Bericht, wie ihr übel von einem Journalisten mitgespielt wurde und einem Lament wie schwer es Journalistinnen und Journalisten haben, aus eigener Sicht, kommt dann folgendes, ein paar Sätze Exkurs zum Thema Werbung:
Der Werbeprofi freut sich dann über die Wirksamkeit seiner Botschaft, nur: Kaufentscheidung folgt daraus keine, sondern eher die Anfrage an Fachleute wie mich, wie man sich von solch unerwünschten Zwangsgedanken befreien kann.
Sympathisch? Betreffend den Zugang zur Wissenschaft:
Je weiter man von einer Lichtquelle entfernt steht, desto größer ist der Schatten, den man wirft. (s. 35)
Das sind natürlich neue Erkenntnisse der Optik. Die bisherige Lehrmeinung ist natürlich irrelevant, wenn man es mit Fachleuten wie der Autorin zu tun hat.
Das Buch ist an sich gut Strukturiert und eingeteilt in Kapitel, die sich mit Lügen und Unwahrhaftigkeit im gesellschaftlichen und privaten Leben wie auch in der inneren Einstellungen manifestieren. Der Stil ist für mich leider etwas mühsam, mir fehlt im Fließtext (nicht in der Struktur des Buches) ein roter Faden; es gibt zu viele Abschweifungen, Appositionen, Gedankenstriche, Zitate und Zitate mit Zitaten, Bildbrüche, manchmal ein esoterisch angehauchter Wortschatz (Geschmackssache), persönlich Erlebtes das nicht immer zum Thema passt:
Ich selbst habe meine Neologismen »Mesoziation« und »Salutogenergethik« sicherheitrshalber gleich rechtlich schützen lassen, denn mir passiert es einerseits laufend, dass Gedanken und Aussagen von mir plagiiiert werden, was bedeutet: angeführt, ohne meinen Namen dazuzustellen, nadrererseits bin ich aber auch schon Opfer von Identitätsklau geworden. (s.64)
Wieder und wieder stellt sich Frau Perner als Opfer dar. Ich will das in der Sache selbst nicht bestreiten, aber gehört das in ein Sachbuch, oder wäre das nicht besser in einem Blog aufgehoben? Wie ist der Zugang zur Wissenschaft wenn man sich "seine" Wortkreationen schützen lässt? Immer wieder Formulierungen der Art "in der von mir erfundenen Methode PROvokativpädagogik" (s.97) — es muss niemand sein Licht unter den Scheffel stellen, aber jede zweite Seite Eigenlob, das ermüdet den Leser. Und dann erst solch ein Absatz:
So empfahl eine Sozialarbeiterin einer arbeitslosen Schneiderin und Mutter dreier unehelicher Kinder, davon eines leicht und eines stark geistig behindert, deren Erzeuger sich jeweils während der Schwangerschaft verabschiedet hatten, sie möge doch ihre Profi-Nähmaschine versetzen, um zu Geld zu kommen — die einzige Quelle, mit der sie laufend kleine Beträge erarbeiten hätte können. Ich habe ihr damals die Maschine ausgelöst und ein paar für mich unnötige, für sie aber lebenswichtige Nähaufträge gegeben, nicht, damit sie den von mir vorgestreckten Betrag zurückzahlen kann, sondern damit sie sich als Werktätige und nicht als Almosenabhängige fühlt. (S. 98)
Wie selbstgerecht ist das?! Da spricht sich die Autorin im gleichen Kapitel dafür aus, völlig berechtigt, Kinder nicht zur Herabwürdigung anderer zu Erziehen, nicht zu verletzen, und dann so etwas? Wie wird sich die erwähnte Nähering fühlen, wenn sie diesen Text liest? Von der hehren Autorin mit "unnötigen" Kleinaufträgen ausgehalten? Ich hoffe die Geschichte ist erfunden.
Es ist schade um das Thema, schade um das Buch, so mein Eindruck. Es ist so viel Wahres in dem Buch, das besser herausgearbeitet worden wäre, anstatt mit erhobenem Zeigefinger Moral zu predigen. Sich selbst als makellosen Charakter zu porträtieren verträgt sich nicht mit dem Buchtitel. Rotraud Perner hat anscheinend nichts zu bereuen.
Mir hat das Buch leider nicht sehr viel gegeben, aber Lernen findet ja nicht immer im Bewusstsein statt — somit bereue ich nicht das Buch gelesen zu haben und fühle mich zum Nachdenken angeregt. Somit hat das Buch etwas erreicht und möchte mit dem passenden Absatz aus dem Buch beenden:
Eigentlich will ich mit diesem Buch nur zum Nachdenken anregen und Mut machen, sich die Zeit zu nehmen, um nachzufühlen, ob das, was man zu tun beabsichtigt, stimmig ist – zur Situation passt, zur eigenen Ethik und Salutogenese, d.h. zur Förderung der Gesundheit aller Beteligten. (S. 233)
2013, Residenz Verlag, ISBN 978-3-7017-3317-0