Gelesen: Kritik der Reinen Vernunft, von Immanuel Kant

Kant ist nichts für verständnislose Menschen.

Ich getraue mich kaum, über dieses Buch zu schreiben, so groß ist die Gefahr, unexakt und schlampig mit Begriffen umzugehen, Sein und Schein unsauber zu vermengen. Das Alter des Textes macht es auch nicht einfacher, die Worte zu verstehen; die Implikationen, die Kant als philosophischer Fachmann seiner Zeit völlig klar sind, sind ohne Übung Knochenarbeit, zumal Kant in seiner Einleitung schreibt, dass er auf Beispiele zur Klärung verzichten musste, um das Buch noch einigermaßen handlich zu halten. Ein relativ beliebiger, kurzer Satz aus dem Buch, stellvertretend für den Stil mit dem man sich als Leser auseinanderzusetzen hat:

Nun ist das, was das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung verknüpft, die vom Verstande der Einheit ihrer intellectuellen Synthesis und von der Sinnlichkeit der Mannigfaltigkeit der Apprehension nach abhängt. (Seite 170)

Es ist für in philosophischen Texten ungeübte Leser nicht einfach, aus diesem Buch Erkenntnisse zu ziehen, auch wenn man spürt, dass das ganze Buch voll davon ist. Um sich als Laie wirklich intensiv mit diesem Stoff wirkungsvoll auseinanderzusetzen, ist Sekundärliteratur zum Buch sicherlich mehr als hilfreich. Auch mehrmaliges Durcharbeiten des Textes ist erhellend, aber dafür ist der Aufwand sehr hoch.

Aber es gab auch Lichtblicke für mich gleich beim ersten Durchlesen; eine Definition des freien Willens:

Man kann sich nur zweierlei Causalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken, entweder nach der Natur, oder aus Freiheit. Die erste ist die Verknüpfung eines Zustandes mit einem vorigen in der Sinnenwelt, worauf jener nach einer Regel folgt. Da nun die Causalität der Erscheinungen auf Zeitbedingungen beruht, und der vorige Zustand, wenn er jederzeit gewesen wäre, auch keine Wirkung, die allererst in der Zeit entspringt, hervorgebracht hätte: so ist die Causalität der Ursache dessen, was geschiet oder entsteht, auch entstanden und bedarf nach dem Verstandesgrundsatze selbst wiederum eine Ursache.
Dagegen verstehe ich unter Freiheit im kosmologischen Verstande das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Causalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte. Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine reine transcendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann, weil es ein allgemeines Gesetz selbst der Möglichkeit aller Erfahrung ist, daß alles, was geschieht, eine Ursache, mithin auch die Causalität der Ursache, die selbst geschehen oder entstanden, wiederum einer Ursache haben müsse; wodurch denn das ganze Feld der Erfahrung, so weit es sich erstrecken mag, in einen Inbegriff bloßer Natur verwadelt wird. Da aber auf solche Weise keine absolute Totalität der Bedingungen im Causlverhältnisse heraus zu bekommen ist, schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontanteität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Causalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen.

Ich kenne nicht den aktuellen Stand der Forschung zu diesem Thema (Freiheit des Denkens) in den Disziplinen Philosophie, Psychologie, Neurobiologie. Aber es fasziniert mich, wie Kant bereits gesehen hat, wie schwierig der freie Wille in einer Welt der Naturwissenschaft zu erklären ist — und das obwohl die Welt von Naturwissenschaft und Technik zu seiner Zeit erst begonnen hat.

Die Frage nach Gott, beziehungsweise der Möglichkeit eines Existenzbeweises, wird in dem Buch viel Aufmerksamkeit geschenkt. Man merkt dem Text an, dass dies durch religiösen Dogmatismus in dieser Zeit ein sehr heikles Thema war. Meist schreibt Kant vom "Obersten Wesen", "Welturheber", "Weltschöpfer", "Allererste Ursache". Dieser letzte Begriff deutet meinen Meinung auch hin, in welches sichere Gebiet sich Kant zurückzieht. Wenn die Welt den Naturgesetzen strikt folgt, wo ist dann der Platz für Gott? Für Kant ist der einzige Platz außerhalb der Welt, als Welturheber und erste Ursache der Welt, Gott als Ersteller des Regelwerks der nicht mehr aktiv eingreift — Deismus. (Eine sehenswerte Beleuchtung dieser Methodik aus Sicht eines Physikers zeigt Harald Lesch in dieser Folge von Alpha Centauri.)

Im letzten Teil des Buches, beim Thema Methodenlehre, schreibt Kant zum ersten Mal über den Menschen direkt, über die Anwendung der Erkenntnisse in der praktischen Vernunft. Für ihn war damals schon die Frage, wie dünn ist die Zivilisationsschicht des modernen Menschen tatsächlich?

Es giebt eine gewisse Unlauterbarkeit in der menschlichen Natur, die am Ende doch wie alles, was von der Natur kommt, eine Anlage zu guten Zwecken enthalten muß, nämlich eine Neigung, seine wahre Gesinnungen zu verhehlen und gewisse angenommene, die man für gut und rühmlich hält, zur Schau zu tragen. Ganz gewiß haben die Menschen durch diesen Hang, sowohl sich zu verhehlen, als auch einen ihnen vertheilhafen Schein anzunehmen, sich nicht bloß civilisirt, sondern nach und nach in gewisser Maße moralisirt, weil keiner durch die Schminke der Anständigkeit, Ehrbarkeit und Sittsamkeit durchdringen konnte, also an vermeintlich ächten Beispielen des Guten, die er um sich sah, eine Schule der Besserung für sich selbst fand. Allein diese Anlage, sich besser zu stellen, als man ist, und Gesinnungen zu äußern, die man nicht hat, dient nur gleichsam provisorisch dazu, um den Menschen aus der Rohigkeit zu bringen und ihn zuerst wenigstens die Manier des Guten, das er kennt, annehmen zu lassen, denn nachher, wenn die ächten Grundsätze einmal entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß jene Falschheit nach und nach kräftig bekämpft werden, weil sie sonst das Herz verdirbt und gute Gesinnungen unter dem Wucherkraute des schönen Scheins nicht aufkommen läßt. (Seite 595)

Wo Machiavelli das gleiche Bild vom "Rohmaterial Mensch" hat, geht Kant als aufgeklärter Mensch doch weiter und gibt einen Weg vor, über die Rohheit die Feinheit der Zivilisation zu legen, und für die Gemeinschaft zu nutzen.

Aber zurück bei bei der reinen Vernunft, was haben wir von ihr und wo sind ihre Grenzen?

Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist wohl nur negativ: da sie nämlich nicht als Organon zur Erweiterung, sondern als Disciplin zur Grenzbestimmung dient und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrthümer zu verhüten. (Seite 628)

Ein sehr bescheidenes Resumeé. Andererseits, ein Blick in eine beliebige Tageszeitung oder das Lieblingsneuigkeitenportal im www zeigt: Irrtümer zu vermeiden, das wäre schon mehr als die halbe Miete auf dieser Welt.

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