Unsymmetrische Verkehrsprioritäten im Modal Split
Erlebnis: Ich laufe eine Siedlungsstraße hinauf, zweispurig, mit Längsparkstreifen links und rechts. Zwanzig Meter vor mir biegt ein Auto auf den Gehsteig ab, bleibt ein paar Zentimeter vor dem Einfahrtstor zum Grundstück stehen. Es ist tatsächlich alles so knapp (Grundstücksmauer rechts, geparkte Autos und Mülltonne links), dass ich stehenbleiben muss und abwarten, bis die Beifahrerin das Gatter geöffnet hat und das Auto auf das Grundstück fährt; eine Kehrtwende meinerseits, wieder bergab, ist mir nicht in den Sinn gekommen.
Indes, auf meine erhitzte (wortgetreu) Nachfrage, was denn das soll, deutete der ältere Herr fast schon ein wenig verzweifelt auf die Straße mit den Worten ‘I kau jo ned de Stroßen blockian!’. Ergänzend muss ich sagen, dass während dieser, vielleicht Minute, kein KfZ die zweispurige Straße entlangfuhr.
Aber allein die bloße Vorstellung, möglicherweise ein anderes Auto blockieren zu können reicht in der Gedankenwelt mancher (immer) noch aus, den Gehsteig (oder Radweg) zu verstellen.
Szenenwechsel ins Büro: Diskussion mit einem Kollegen, es geht um eine bestimmte Kreuzung, an der ein Radfahrer bei roter Ampel rechts in den (rechtsseitigen) Radweg eingebogen ist, also keine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer — moralisch (nicht: iuristisch) verwerflich oder nicht? Meinung des Kollegen: ‘Rote Ampel haben gefälligst für alle gleich zu gelten!’
Dazu zwei Gedankenexperimente:
- Warum brauchen wir so viele Ampeln?
- Was wäre, wenn es keine Autos mehr gäbe (nur Fußgänger, Radfahrer, öffentliche Verkehrsmittel)? Ampeln würde es vielleicht noch an hochfrequentierten Radfahrkreuzungen geben, aber wahrscheinlich auch das nicht. Der Verkehr würde aber im Grunde recht locker fließen.
- Was wäre, wenn es nur mehr Autos und keine anderen Verkehrsteilnehmer mehr gäbe? Es bräuchte mindestens genauso viele Ampeln, wahrscheinlich mehr. - Länge des Arbeitsweges in diesen Szenarien.
- Was wäre, wenn es keine Autos mehr gäbe? Ich wäre zehn Minuten schneller im Büro, durch Wegfall der Ampeln (zu Fuß und mit der Straßenbahn).
- was wäre, wenn es nur mehr Autos gäbe? Der Weg mit dem Auto würde wohl um dreißig Minuten länger, durch noch zäheren Verkehr in der Stadt.
Diese beiden Gedankenexperimente machen klar, dass die Verkehrsregelung, so wie sie jetzt existiert, auf den Individualverkehr zugeschnitten ist. Es wäre falsch, diesen zu verbieten, aber es muss auch bewusst sein, dass die Verzögerungen dieser Anlagen eben überwiegend dem Individualverkehr anzulasten ist, und nicht aus Verkehr an sich (mit anderen Verkehrsmitteln) resultiert.