Wie durchschaubar ist die Demokratie noch? Anhand eines Beispiels zum Zugang zu sozialen Medien ab 16 Jahren sowie der geplanten Chatkontrolle.
Indirekte Demokratie und die Macht des Großen
Der Prozess der Gesetzgebung ist bereits auf nationaler Ebene nicht einfach zu verstehen. Auf der Ebene der Europäischen Union wird dieses Ansinnen für den Normalbürger zur Unmöglichkeit.
Die Menschen – vor allem in den als „westlich“ bezeichneten Demokratien – sind es nicht zuletzt deshalb gewohnt,
das Wissen um und die Durchführung in bezug auf den Rechtsstaat seinen Vertretern zu überlassen,
allgemein bezeichnet als „indirekte Demokratie“.
Ja, das moderne Leben und die Normen, denen man sich unterwirft, sind kompliziert geworden.
Aber wenn man es denn mal genau wissen will, kann man sich ja informieren.
Kann man?
Vermutlich schon. Allerdings ist der Aufwand dafür ungebührlich hoch.
Anlassfall
Zur Zeit werden in der EU Weichen gestellt, die Überwachung der digitalen Aktivitäten der Bürger auszuweiten. Im Gespräch ist die automatische Übermittlung und Auswertung von Nachrichten bevor deren Übermittlung („Chatkontrolle“), oder auch die Altersverifikation auf Kommunikationsportalen zum (vorgeschoben oder nicht) Zwecke des Jugendschutzes. In der EU geht es dabei wie gewöhnlich hin und her zwischen Kommission, Parlament, diversen Ausschüssen. Verbindliche Gesetzesvorlagen und Aufforderungen und Absichtserklärungen für verbindliche Gesetzesvorlagen, Anträge und Beschlüsse, von verschiedenen Körperschaften — ein juristisches Poolbillard.

Am 26. November geht es erneut um das Thema Altersverifikation. Eine Menge recht plausibler Ideen zum Schutz von Kindern bei ihrer digitalen Kommunikation wird überlagert vom Elefanten im Raum: Eine verpflichtende Altersverifikation bedingt das Ende der Anonymität, in diesem Fall soll sogar die Mutter staatlicher Identifizierbarkeit, die eID, als Voraussetzung. Damit wären sämtliche Kommentare auf diesen Portalen automatisch Personen zugeordnet.
Diese Entscheidungen sind Richtungsentscheidungen. Für die Gesellschaft, für die Demokratie.
Der Sachverhalt ist wie gesagt kompliziert, und wie Parteivertreter reden, und für welche Gesetze sie dann schlussendlich eintreten, das ist nicht immer deckungsgleich. Deshalb ist es wohl verständlich, dass man auch als Normalbürger verstehen will, was in den Regelungen konkret festgeschrieben ist, und welcher der Volksvertreter wie abgestimmt hat.
Nun, man liest am 26. November wurde für den „Schutz von Minderjährigen im Internet“ gestimmt. Was bedeutet das? Wer hat tatsächlich dafür gestimmt — inkludiert damit das Ende der Anonymität auf Facebook, Instagram, Google, X und Konsorten?
Das kann ja nicht schwer sein, herauszufinden, worüber im Europaparlament abgestimmt wurde, und wer dafür, wer dagegen abgestimmt hat.
Ist es.
Recherche
Eine Verlautbarung erzählt
von einer „Forderung“ (an wen?) der Parlamentarier, die Jugendlichen besser zu schützen.
Aber worum geht's nun genau?
Bei aller Angst vor der Juristensprache, die Originalquelle, das Gesetz selbst, sollte exakter als jeglicher Kommentar,
besser als „journalistische Einordnung“, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Allerdings ist diese Quelle gut versteckt, und so ist man auf Sekundärliteratur angewiesen.
Wenn man dann glaubt zu verstehen, über welche Normen nun hier abgestimmt wurde, möchte man wissen, wie die eigenen Volksvertreter,
aus dem eigenen Land, und die Mandatare der Partei, die man selbst gewählt hat, abgestimmt haben.
Aber dieses Unterfangen ist noch schwieriger.
Es gibt eine offizielle Abstimmungsseite, wo die Paragraphen und das
Abstimmungsverhalten aufgelistet sind:

Die Paragraphen selbst sind aber hier nicht verlinkt. Sie sind über eine Suchmaschine auch nicht einfach aufzufinden.
Hier ist tatsächlich der Einsatz von AI-LLMs eine große Hilfe. Im konkreten gibt hier Grok Auskunft:
Gib mir Informationen zu A10-0213/2025 – Christel Schaldemose – After § 1 – Am 1
A10-0213/2025 ist die Dokumentennummer des Berichts des Europäischen Parlaments zum Thema „Protection of minors online“ (Schutz von Minderjährigen im Internet). Der Bericht ist ein Eigeninitiativbericht (Own-Initiative Report, Prozedur 2025/2060(INI)) des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO). Rapporteurin ist Christel Schaldemose (S&D, Dänemark).Die Bezeichnung „After § 1 – Am 1“ (oder ähnlich „After Paragraph 1 – Amendment 1“) bezieht sich auf einen Änderungsantrag (Amendment) Nr. 1, der nach dem Paragraphen § 1 (also nach dem ersten Erwägungsgrund oder Absatz des Resolutionsentwurfs) eingefügt werden soll. Solche Änderungsanträge werden von Abgeordneten oder Gruppen eingereicht und separat abgestimmt, bevor der gesamte Bericht angenommen wird.Kontext des Berichts:
Der Bericht fordert strengere Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen online, u. a.: Ein harmonisiertes EU-Mindestalter von 16 Jahren für den Zugang zu Social Media, Video-Sharing-Plattformen und KI-basierten Companions (mit elterlicher Zustimmung möglich ab 13–16 Jahren). Bessere Altersverifikation (privacy-freundlich, z. B. via EU-App oder Digital Identity Wallet). Verbot suchterzeugender Design-Elemente für Minderjährige (z. B. Infinite Scroll, Autoplay-Videos, übermäßige Notifications). Strengere Durchsetzung des Digital Services Act (DSA), inklusive möglicher persönlicher Haftung von Managern bei schweren Verstößen. Der Bericht wurde im IMCO-Ausschuss angenommen und am 26. November 2025 im Plenum mit 483 Ja-Stimmen, 92 Nein und 86 Enthaltungen verabschiedet.
Zum spezifischen Amendment „After § 1 – Am 1“:In den verfügbaren Dokumenten wird ein solcher Amendment direkt nicht detailliert beschrieben (die Amendments sind in separaten PDFs gruppiert, z. B. A10-0213/1 mit Amendments von Virginie Joron u. a.). Typischerweise betreffen frühe Amendments (Am 1 nach § 1) Ergänzungen zu den einleitenden Erwägungsgründen, z. B. zur Betonung von Datenschutz, nationalen Unterschieden oder zusätzlichen Risiken.Die finale Abstimmungsliste (Voting list) für die Plenarabstimmung enthält separate Abstimmungen über einzelne Amendments, oft mit Bezeichnungen wie „After § 1 – Am 1“. Das genaue Abstimmungsergebnis und der Wortlaut dieses spezifischen Amendments sind in der offiziellen Voting List oder den Amendments-PDFs auf der EP-Website nachzulesen.Quellen und weitere Infos:
Vollständiger Bericht:
https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-10-2025-0213_EN.html Prozedurdatei:
https://oeil.secure.europarl.europa.eu/oeil/popups/ficheprocedure.do?reference=2025/2060(INI) Amendments-Beispiele: z. B. https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-10-2025-0213-AM-001-003_EN.pdf
Falls du den exakten Text des Amendments oder das Abstimmungsergebnis brauchst, empfehle ich die direkte Suche auf europarl.europa.eu nach der Voting List zur Sitzung vom November 2025.
Das ist tatsächlich die beste Zusammenfassung des Sachbestands, die ich in mehreren Stunden Suche im Internet gefunden hatte.
Oder anders gesagt, ich hatte bei der Suche nichts wirklich Brauchbares gefunden,
keine für Nichtjuristen verständlichen Quellen, und auch keine journalistische „Einordnung“, die über Plattitüden hinausgeht.
Das halte ich für sehr bedenklich.
Gleich eine „KI“ zu befragen, wäre also der effektivste Weg gewesen.
Und genau diesen Weg werden jetzt die meisten Menschen wählen.
Von zigtausend Medien, lokal bis international, vor 50 Jahren, ist der Markt der Meinungen auf wenige hundert Leitmedien weltweit (alle anderen hatten aus Kostengründen hauptsächlich von diesen abgeschrieben) geschrumpft, und nun seit zwei Jahren auf eine handvoll Systeme der IT-Oligarchie.
Gelegentlich stolpert man noch über Videoschnipsel, in diesem Fall eines Mitglieds des Europäischen Parlaments, also durchaus eine Primärquelle:
Der zypriotische Parlamentarier Fidias Panayiotou erklärt in diesem Video was in den letzten Tagen zum Thema „Chatkontrolle“ passiert ist — und was nicht.
Diese Art Information verschwindet aber noch schneller im grauen Meer der Überinformation als geschriebener Text.
Obwohl ich das Video erst gestern Abend auf X entdeckt hatte, war es mir jetzt nicht mehr möglich, es ohne wiederum Einsatz von Grok zu finden.
Es ist verständlich, dass gerade unabhängigeren Politikern die Selbstvermarktung via Video wichtig sein muss,
aber nachhaltig ist diese Art der Informationsmittlung leider gar nicht.
Ganz abgesehen von politischen Unwägbarkeiten, dass unliebsame Videos noch leichter als Text aus dem Internet zu löschen1 sind.
Conclusio
Die physische, kommunikative und vor allem gedankliche Entfernung der EU Nomenklatur von der betroffenen Bevölkerung ist ein demokratiepolitisches Desaster.
Während es bereits auf nationaler Ebene sehr schwierig ist, alle Gesetzes- und Verordnungstexte nachzuverfolgen,
so ist es im Kompetenzwirrwarr und bei den bürokratischen Prozessen auf Steroiden der EU definitiv nicht möglich.
Auch nur einen Teil des politischen Feldes zu überblicken und zu verstehen, wenn man das nicht zufällig beruflich (=bezahlt) betreibt, ist Vollzeitarbeit.
Für Menschen ohne volle Tagesfreizeit ein Ding der Unmöglichkeit.
Ich bezweifle, dass es Journalisten trotz beruflicher Befassung hier anders ergeht, obwohl sie anderes suggerieren.
Somit berichten sie, was genehm und bequem ist, was dann als medialer „Mainstream“ bezeichnet wird.
Den politisch führenden Zirkeln ist es ein leichtes, vor allem mittels Salamitaktik,
jede noch so unvernünftige und unpopuläre Norm dem verwirrten Bürger unterzujubeln.
Hü — jeder Zugriff aufs Internet muss via EU-Identität authentisiert werden!
Hott — nah, doch nicht. Ist nur eine Aufforderung eines parlamentarischen Ausschusses an die Kommission. Keine Sorge!
(Siehe Video von Panayiotou weiter oben.)
Zwei Wochen, zwei Monate, zwei Jahre später kommt es dann doch wie ursprünglich befürchtet,
inzwischen ist die Bevölkerung aber schon daran gewöhnt, es kommt kein Protest mehr.
Das ganze dutzendfach pro Jahr, jegliche Opposition ist ermüdet.
Die Chatkontrolle ist so ein Jahresprojekt, so wie die Abschaffung von Bargeld, oder – über Jahrzehnte – das untrennbare
Verweben von eIDAS in den Alltag, was im Endeffekt lückenlose Überwachung der Bürger ermöglicht.
Das geschieht ganz offen, der jahrzehntelange EU-Spitzenpolitiker Jean-Claude Juncker beschreibt in einem Interview das Prinzip:
Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter. (1999, über die Bürokratie in Brüssel)
Die EU als allumfassendes politisches Projekt ist gescheitert.
Warum in Europa nicht möglich sein soll, was als „United States of America“, als China oder mittlerweile
auch Russland, als mehr oder weniger holprige politische Großgebilde, funktioniert, ist nicht klar.
Möglicherweise ist es die doch diverse (also, wirklich) Geschichte Europas, das ehrgeizige Streben seiner Völker,
seine geographische Lage und seine Kleinheit, das Fehlen großer natürlicher Ressourcen,
seine eher dunkle politische Geschichte und damit der erdrückende Einfluss der USA, oder ganz etwas anderes.
Ich verbeuge mich wieder vor der Weitsicht des unterschätzten Leopold Kohr,
dem zeitlebens die Skepsis vor zu großen politischen Konstrukten innewohnte.
Seine Plädoyers für kleine, von Menschen überschaubare politische Strukturen beinhalten viel Wahrhaftiges.
Ad „vom Menschen überschaubar:“
Was hier in der EU abläuft, ist von den Bürgern definitiv nicht überschaubar.
Was ist dieser Tage die Standardantwort auf solche Herausforderungen, wenn die menschliche Intelligenz an ihre Grenzen stößt?
Natürlich der Einsatz künstlicher Intelligenz.
Tatsächlich könnte die sehr hilfreich sein, wie man in Österreich an der Applikation parlament.fyi sehen kann.
Und obwohl in der EU Milliarden an Euros für diverse Förderungen im Bereich KI ausgegeben werden,
gibt es weit und breit keine Initiative dazu, der breiten Bevölkerung die Details der EU Normen verständlich aber unvermittelt näherzubringen.
Man muss von Absicht ausgehen.
Ich kann dem Autor Jochen Mitschka in diesem Artikel auf TKP: Warum ich für die Auflösung der EU bin leider nur zustimmen.
Das ist Internet vergisst nicht? Leider eine Mär. Wenn es vergessen soll, tut es das sehr wohl. ↩︎